- DR. SYBILLE-KARIN MOSER-ERNST

Wollte man Kunstwerke der Vergangenheit nicht nur bewundern, sondern auch „verstehen“, dann war in den letzten Jahrzehnten schnell die Theorie des „Zeitgeistes“ zur Hand. Befragt, wer oder was der Zeitgeist sei, stellte sich – verständlicherweise – Verlegenheit ein; ja, man könnte den Begriff Zeitgeist nicht einmal in andere Sprachen, und sei’s Englisch, übersetzen!

Der Begriff erweist sich als Taugenichts, als Vagabund, wie Peter Sloterdijk in Anlehnung an die romantische Titelfigur von Josef von Eichendorffs Roman zur Diskussion brachte (1). Der Begriff Zeitgeist musste, unübersetzbar, ein – vielleicht das meistgebrauchte – Lehnwort für das deutsche Vergangenheitsdenken bleiben, dessen Bedeutung wir in der Geschichtsphilosophie der Romantik finden können. Diese stellt den letzten großen philosophischen Versuch einer Metaphysik dar, entstanden in einer Kultur, die große Risse, ja Brüche zeigte. Es war der

Versuch einer allumfassenden Erklärung des Weltengeschicks, unter Verzicht auf den alten

Glauben – .

Der Wunsch, Kontinuitäten in der Geschichte des Menschen nachweisen zu können, und zwar über die Zeiten und über die verschiedensten Kulturen hinweg, bemüht sich wiederholt um den Nachweis der Existenz „innerer Bilder“, welche überdauernd „präsent“ sind, und deren Ort plausiblerweise überindividuell sein müsste (2).

Die adäquate Form.

Doch wenn es wahr ist, dass die Kontinuität der Kunst eher durch regionale Traditionen garantiert ist als durch Epigramme, die ein „kollektives Unbewusstes“ besetzen, dann sind wir zum Nachvollziehen dieses künstlerischen Prozesses in der Werkstatt des Grödner Bildhauers Gregor Prugger gerade am richtigen Ort. Er gehört zu den  Künstlern, die das Umsetzen ihrer künstlerischen Visionen als eine Tätigkeit ansehen, die Kunstfertigkeit voraussetzt und dabei in

lokalen, traditionellen, künstlerischen Praktiken tuend, probierend, die und genau nur diese eine neue Lösung eines anstehenden Problems findet: una attività artigianale. Ganz ähnlich, wie sich der Sprechende zu vermitteln sucht, und wie für die Hörenden erkennbar wird, ob sie es mit einem brillanten Sophisten zu tun haben, oder mit jemandem, der etwas zu sagen hat, so sucht der bildende Künstler Gregor Prugger nach der adäquaten Form, um etwas zu zeigen. Seine Triebfeder ist eine unbändige Schaffenslust, seine Themen drehen sich um das Erzählen vom Leben. Dabei berührt er, eher unbewusst als kalkulierend intendiert, die gegenwärtig politisch brisantesten Bereiche. Gregor Prugger ist nicht abbildend tätig, seine Kunst ist niemals

„Ausdruck der Zeit“ gewesen, sie beweist sich, indem sie sich selbst genügt und uns, die Betrachter, in ihrer Schönheit staunen macht. Eduard von Mörike hat diese wesentliche Eigenschaft einer Kunst, die um ihrer selbst willen da steht, in dem Gedicht „Auf eine Lampe“ unnachahmlich formuliert (3).

Wir knüpfen an dieser Stelle beim Glauben an, bei jenem Imperativ, den wir, gerade oben im ersten Absatz, mit einem Gedankenstrich als Wort stehen gelassen haben. In der Programm – Vorschau vom 19. April 2015 wurde vom europäischen TV-Sender 3sat die Themenwoche vorgestellt, sie lautete: „Woran glaubst Du ?“ Ein paar wenige Schlagworte, Assoziationen aufrufend, die seit einiger Zeit in aller Munde und politisch von höchster Brisanz sind, sollten neugierig machen. „3sat beschäftigt sich mit einer der stärksten Triebfedern menschlichen Handelns und dem Minenfeld moderner Zivilgesellschaften“ [mit dem Thema Glauben, Einfüg. v.d. Verfass.], schloss die Ansage. Ein Minenfeld ruft eine ungemütliche Vorstellung auf. Wer alt genug ist, um noch eine erfahrungsgesättigte Erinnerung an den Minenstreifen jenseits des ehemaligen sogenannten „Eisernen Vorhangs“ zu haben, weiß damit einerseits Niemandsland als „Schutzstreifen“, andererseits höchste Gefahr, je nach Gesichtspunkt, in Verbindung zu bringen. Jedenfalls handelte es sich um eine Zone, die man nicht betreten mochte. Diese Zone trennte unvereinbare Ideologien. Es ging um abstrakte Ideen oder politische Glaubenssätze, die es zu verteidigen ga/ilt. Wir bleiben bei den Metaphern und erinnern uns, dass es gleichwohl auch ein Evangelium gibt, das von einer Zeit spricht, in der die Schwerter wieder zu Pflugscharen umgeschmiedet  werden sollen. Die Vereinten Nationen gaben sich nach dem Zweiten Weltkrieg diesen Text als Devise, als wollten sie die Verantwortung für die Erfüllung der Prophezeiung übernehmen. Wer kennt noch Pflugscharen? Sie gehören auch zum Wortschatz der vergangenen Epoche eines Goethe oder J.G. Herder, in der gerade der moderne Begriff „Kultur“, der damals noch unbedingt den Zusammenhang mit agricultura  (der Pflege des Bodens) in sich trug, im Entstehen war. Kultur braucht Pflege, Pflugscharen sind zum Umackern des Bodens da, der wieder Frucht hervorbringt. Wieder wären wir in den Tagen der Romantik angekommen.

Der Glaube sei eine der stärksten Triebfedern menschlichen Handelns, lasen wir eben oben im Text von 3sat, und noch weiter: der Glaube, wiewohl privat, beeinflusse unsere Haltung gegenüber Mitmenschen und somit die soziale Struktur von Gemeinschaften. An und für sich ist eine innere Triebfeder etwas Unverzichtbares, um überhaupt Leben zu erhalten. Sie ist elastisch und drängend, und voller Energie. Ich habe dem Leser dieses Textes bis zu dieser Zeile hier schon eine Menge zugemutet; ihn mit scheinbar wegführenden Gedanken konfrontiert. Sie sollten im buchstäblichen Sinn des Worte „Weg führend“ sein. Dies war notwendig, um überhaupt zu Gregor Prugger hinführen zu können.

Zuerst möchte ich ihn von dem billigen Kunsturteil befreien, das meinen könnte, man habe es in Prugger mit einem Künstler der romantischen Naturverbundenheit zu tun. Wenngleich ein solches Urteil im besten Meinen, zeitgeistig denkend gewürdigt zu haben, ausgesprochen worden sein sollte, so könnte es kaum falscher ausgefallen sein.

Gregor Prugger ist alles andere als ein Naturromantiker. Es sind seine geistesgegenwärtige Rationalität, seine Trotzmacht des Geistes, und die Triebfeder eines unbedingten Glaubens an das Leben, die ihm die Kraft zu – nicht selten – ungewöhnlichen Entscheidungen verleihen.

Paragone als Mitstreit. Vom Verhältnis zwischen Natur und Kunst.

Seine letzten Werke, Reliefs vom Feinsten, mit der Kettensäge aus MDF-Platten herausgearbeitet (zum Beispiel Pioggia), oder fotographische Fundstücke der Natur, durch die Bildbearbeitung gegangen, über die digitale Übersetzung durch eine 3D-Maschine hergestellt, präsentieren sich in dunklem Graphitschwarz. Wieso die große Dunkelheit mitten im Erzählen vom Leben?

Es sind wir, die Intellektuellen, oder die anscheinend oder scheinbar Informierten, die sogleich mit „Dunkle große schwarze Blume“ oder mit den „Blauen Disteln der Kunst“ zum einen Stefan George (4) wie zum anderen Lilly von Sauter (5), zusammen mit diversen Kontexten verbinden, es sind wir, die Angekränkelten einer in die Jahre gekommenen Geschichtsphilosophie, die

nicht mehr die Bedeutungen hintergehen können, die die Diskurstheorie den Phänomenen wie

Stempel aufgedrückt hat. Und es sind wir, die Betrachter der Kunstwerke, die ihnen mit unseren Interpretationen Gewalt antun können (6). Gregor Prugger, der unbeirrt seinen eigenen künstlerischen Weg geht, hingegen kann alle durch kulturellen Diskurs entstandene Bedeutungen, die wie Zeichen an den Dingen hängen, hintergehen. Und wir sollten ihm dafür dankbar sein, denn wir brauchen Visionen, wir dürsten nach reinem Wasser des Lebens.

Ihn faszinierten die einfachsten Sensationen des Alltäglichen. Er sah die Strukturen in einer schwarzen Wand, die der in die Schlucht vor Pilat hinunterprasselnde Regen als tafelartiges Phänomen vor den Augen erzeugte, und der Künstler wollte diese erhabene, beeindruckende und Scheu einflößende Sensation wiedererschaffen. Oder: er sah die Ordnungen im trockenen Strauchwerk, und ließ sie über die bildbearbeitenden Funktionen der Maschine noch aufdringlicher erscheinen machen, ehe er sie der computergesteuerten Fräse anvertraute. Die hightechnischen Mittel waren ihm recht. Einerlei ihm, dessen Hände im Beherrschen des Kunsthandwerklichen zum Parnass der Künstler hinlangen?

Es ist die rationale Entscheidung zur adäquaten Form, zum Zweck des Erschließens des Absoluten, zu dem keine Kunst vordringt, geschweige denn das Wort vom Absoluten Kunde ablegen kann; vor dem nur das Staunen als Möglichkeit bleibt. Doch durch das Zeigen und Hinweisen erschließt der Künstler Prugger dem Betrachter die Lust am Sehen und führt wieder hin zur Fähigkeit des Staunens.

Vor dieser letzten Werk-Reihe hat Gregor nochmals die Auswege erkundet. Die Werkserie „Auswege“ könnte nicht besser beschrieben werden als learning by doing. In der Homogenität der MDF-Platte suchte der Bildhauer als Reliefkünstler im materiellen Illusionsbereich von wenigen Zentimetern oder gar  Millimetern Tiefe verschränkte Räume darzustellen, aus denen er, darstellend, den Ausweg suchte. Als sei er in den Paragone eingetreten, den einstigen produktiven Künstler-Mitstreit im Quattro-und Cinquecento. Damals wurde im Speziellen die Rolle zwischen Malerei und Skulptur, im Allgemeinen das Verhältnis zwischen Natur und Kunst neu ausgelotet. Es ging um das Einschreiben körperlich-haptischer Eigenschaften in visuelle Bildformen, Farbe wurde als bildhauerisches Mittel eingesetzt oder Skulptur wurde zum Bild. So wie damals beschreibt das Mühen im Mitstreit, im Paragone, auch Prugger’s Ringen in einer Praxis, die Bilder plurimedial versteht.

Pruggers Triebkraft, sein Glaube, hat die Fundamente im Boden von Grundsätzen, die sich vor allem im Ausleben von Familie im allumfassenden Sinn erweisen. Wir haben seit den großen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts eine binäre Vorstellungswelt aufgebaut, die mit den Parametern progressiv und konservativ im Gepäck, jedes Phänomen mit diesen zu messen sich anmaßt. Wollte man Prugger auf diese Weise entweder als Konservativen, oder als Progressiven verorten, dann könnte man ihn gründlich verpasst haben. Sein Lebensort Pilat, wo Ziegen und Eseln weitere Valenzen eines großen Familienverbandes bilden, ist, wie ich es als Beobachterin eines Künstlerlebens wahrnehme, die Grundlage seiner Existenz.

Verankerungen, wie sie Prugger bestimmen, und wie ich sie hier durch meinen Text sichtbar machen und erklären möchte, gewährleisten ihm, seine Anliegen zuerst überhaupt spüren und sodann die Äußerungsmöglichkeiten erdenken zu können, um schließlich die adäquate Darstellungsform im Material – zumeist Holz –  zu finden und somit das Anliegen in einem Kunstwerk zu realisieren. Vier Schritte des künstlerischen Prozesses werden hier angesprochen: Spüren des Lebens, das sich im Phänomenalen zu erkennen gibt; Erdenken der Möglichkeiten einer Entäußerung; Finden der Darstellungsform und schließlich das Finalisieren im Kunstwerk. Für die Töne, hinausreichend bis in die Natur hat Gregor Bäume in den Hängen über Pilat entdeckt, die, von der Lawine gebeugt, durch starke Wurzeln im Gestein verankert blieben.
Ihre so gewordene Natur-Gestalt hat er in einem gleichsam osmotischen Prozess zu einer Kunst-Gestalt in Beziehung gebracht. Im Mitstreit mit der Natur erschafft er das Kunstwerk, das uns von seinen Einsichten in das Leben erzählt.

Im Denken an die Bilder, die uns allen über die visuellen Medien vor die Augen geworfen werden, schlug er einem Ahorn einige Äste ab, um daraus gefolterte, gebundene Hände zu bilden. Aus den „Verstümmelungen eines Baumes“-seinen abgeschlagenen Ästen-, schnitzte er die ausdrucksstarken Hände, die sich ihm aus den Tages-Berichten in das innere Auge der Erinnerung eingebrannt hatten. Sie gerieten ihm jedoch zu handwerklich, zu „grödnerisch“, wie er kritisierte; damit hätten sie in einen Kunstbereich hingeführt, den er jetzt nicht betreten wollte. So brachte er sie zum Sandstrahlen, um über diese maschinelle Behandlung die Spuren des Handwerklichen verschwinden zu machen. Nun überstrahlen die Maserungen des Holzes, also die Charakterspuren der Natur, das Handwerkliche der Kunst. Seine Biographie liest sich auf den ersten Blick völlig unspektakulär, er lebt und arbeitet in Ortisei, in St. Ulrich in Gröden, wo er geboren wurde. In der Karrierewelt eines ganz bestimmten Spektrums, wo der Hype regiert, scheint vor allem unentwegte Mobilität Ausweis von Qualität zu sein. Gregor hat von dieser nur begrenzt Gebrauch gemacht. Er gehört der begünstigten Generation an, deren Eltern, wenngleich nicht ohne Entbehrungen, für die adäquate Ausbildung der Kinder einiges zu erbringen bereit waren. Gregor Prugger wurde in Florenz noch von den rebellischen Strömungen der 68-er Bewegung an der Akademie erfasst und begeistert. Doch nach zwei Jahren war der Hunger nach gezieltem Lernen und Arbeiten größer als der Wunsch, die akademischen Weihen zu erlangen, für die er noch weitere Zeiten in einer lasch gewordenen Akademie absitzen hätte müssen. Er erkannte mit Trauer, dass die Kraft der ehedem kraftvollen politischen Bewegung erlahmt, und im bloßen Wort stecken

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